Dipl.-Physiker Jochen Ebel . . . . . . Borkheide, 08.07.02
Herrn Prof. Miegel
Frau Prof. Brunner
Herrn Prof. Späth
Herrn Dr. Gysi
Sehr geehrte Damen und Herren,
Sie beschäftigen sich alle mit der Arbeitslosenentwicklung. Der Anlaß für diese eMail ist Ihre Öffentlichkeitsarbeit. Prof. Miegel hat eine Studie auch im Internet veröffentlicht (Arbeitslosigkeit in Deutschland). Prof. Späth hat mit Dr. Gysi ein am 25.06.02 ausgestrahltes Gespräch geführt und Prof. Brunner hat sich im IT-Kompaktkurs am 24.06.02 (der Arbeitsmarkt) dazu geäußert. Die Bundestagsfraktion der Grünen hat am 15. 06.02 in Berlin einen Ostkongreß durchgeführt. Und die Gewerkschaft interessiert es bestimmt auch.
Allen fehlt nach meiner Ansicht ein strategisch tragfähiges Konzept zur weiteren Arbeitsmarktentwicklung. Nach meiner Ansicht habe ich einen tragfähigen Ansatz dazu, der natürlich noch ausgebaut werden muß. Zunächst aber noch zum Zustand.
Prof. Miegel hat in seiner Studie begründet warum in den vergangenen 150 Jahren die Arbeitszeit von der ca. 100-h-Woche auf die jetzt ca. 30-h-Woche zurückgegangen ist: nämlich durch die schnell steigende Arbeitsproduktivität, die auch immer größeren Kapitaleinsatz erfordert hat, und den langsamer wachsenden Konsum. Prof. Miegel ist auch überzeugt, daß sich diese Entwicklung in der Zukunft fortsetzt. Dr. Gysi (ebenfalls davon überzeugt) sagte, wenn die Arbeitszeit genügend gesunken ist, ist in der Vergangenheit immer ein Qualitätssprung eingetreten, der zu mehr Arbeitszeit geführt hat. Das ist zwar richtig, aber jeder dieser Quaitätssprünge war mit Mehrverbrauch verbunden. Z.B. setzte die Massenproduktion von Büchern, Waffen usw. ein. Verschiedene Bevölkerungsgruppen im Regenwald brauchten bis in die heutige Zeit ca. 2 Std. für ihre Versorgung. Als sie mit der "Zivilisation" in Berührung kamen, reichten auf einmal 8 Std. nicht mehr aus, um Radios usw. einzutauschen. Welchen qualitativen Mehrbedarf kann denn Dr. Gysi heute erkennen. Die Vorschläge von Prof. Brunner und Prof. Späth packen das Übel nicht an der Wurzel. Die Grünen haben auf dem Ostkongreß in dem Forum ""Lernt und schafft ..." - Arbeit der Zukunft" sogar eine Diskussion zu strategischen Fragen ausgeschlossen. Und auch die Hartz-Kommission glaubt durch Druck Beschäftigung erzwingen zu können, und zwar für Stellen, für die eigentlich keine Nachfrage besteht.
Ich hätte zwar eine psychologische Erklärung, warum die Konsumsteigerung hinter der Steigerung der Arbeitsproduktivität zurück bleibt, aber das ist hier uninteressant. Wichtiger ist ein Vorschlag, der ein möglichst guter Ausgleich der verschiedenen Interessen ist. Denn alle Vorschläge, die ich kenne, packen nicht das Problem an der Wurzel.
Der Konsum läßt sich nur wenig steigern. In Zeiten der Verunsicherung kann er sogar zurück gehen. Die Industrie will immer effektiver produzieren, flexibel sein (Arbeitszeit und Kündigung) und ist an Absatz interessiert, der möglichst sicher sein soll. Der Staat braucht Steuern und ist deshalb nicht an Schwarzarbeit interessiert. Die Arbeitnehmer wollen möglichst viel verdienen und bessere Sicherheit haben (Schutz vor Arbeitslosigkeit und Überstunden).
Es bleibt also "bloß" der Weg unter Beachtung dieser Randbedingungen Produktion, Angebot und Verbrauch in Übereinstimmung zu bringen.
Wegen der modernen Industriebedingungen halte ich wenig von festen Vorschriften zur Arbeitszeit. Im jetzigen Wirtschaftssystem wird viel über Geld gesteuert. Warum nicht auch hier. Ein Steuerungsinstrument könnte die Steuer sein. Bis jetzt sind die Arbeitnehmersteuern nur vom Einkommen abhängig. Es könnte aber noch eine zusätzliche Abhängigkeit eingeführt werden, indem der Steuersatz sowohl vom Einkommen als auch von von der gearbeiteten Zeit abhängt. Und noch etwas ist Wesentlich - die Kaufkraft hängt nicht vom Bruttolohn, sondern vom Nettolohn ab.
Was will ich damit erreichen? Heute versorgen etwa 9 Arbeitende einen Arbeitslosen mit.
Wenn alle 10 für vollen Lohn arbeiten, steigt der Konsum nur gering (aber trotzdem ist das bei der Rechnung zu beachten). Wenn alle 10 arbeiten ist also nur unwesentlich mehr zu produzieren (Dienstleistungen usw. eingeschlossen). Deshalb darf die Gesamtarbeitszeit der 10 nicht größer als die Gesamtarbeitszeit der bisherigen 9 sein. Da auch die Preise stabil bleiben sollen, kann den 10 insgesamt kein höherer Bruttolohn (einschließlich der Unternehmeranteile) gezahlt werden, als bisher den 9, d.h. der Bruttolohn aller Beschäftigten sinkt. Aber da jetzt mehr Beschäftigte Steuern zahlen, sollte der Steueranteil (einschließlich Sozialversicherung, Pflegev. und fast Wegfall der Arbeitslosenversicherung) für jeden einzelnen sinken, aber nur so weit, daß das Gesamtsteueraufkommen erhalten bleibt.
Das ist jetzt durchzurechnen. Ich habe das sowohl für die die einzelne Kleingruppe gemacht (von 9 Arbeitenden + 1 Arbeitslosen auf 10 Arbeitende) als auch mit den gesamtwirtschaftlichen Daten lt. statistischen Angaben. Und der erwartete Effekt ist bestätigt. Die Bruttoarbeitslöhne sinken, aber Nettolöhne und Steueraufkommen steigen. Wobei die Verteilung der Steigerungen auf Nettolöhne und Steuer natürlich von den konkreten Gesetzen abhängt. Deswegen kann das Modell auch nicht ein einzelnes Unternehmen von sich aus einführen - obwohl die Übergangsvorschriften so sein können, das einzelne Unternehmen damit anfangen.
Das Steuerungsinstrument Steuersatz abhängig von der Arbeitszeit sollte so sein, daß die Arbeitnehmer kein Interesse an Überstunden haben (es wird alles weggesteuert). Das schließt nicht aus, daß zu Boomzeiten Überstunden gemacht werden, dafür aber in Zeiten der Flaute kürzer gearbeitet wird (bisher mit Arbeitszeitkonten). Da fast keine Arbeitslosigkeit zu herrschen braucht, kann bei Änderung der Produktionsbedingungen leichter gekündigt werden und auf der Arbeitnehmerseite ist kein krampfhaftes Festhalten am alten Arbeitsplatz erforderlich, denn man bekommt bald einen neuen Arbeitsplatz. Durch eine gezielte Anpassung der arbeitszeitabhängigen Steuersätze kann der ständigen Steigerung der Arbeitsproduktivität Rechnung getragen werden. Damit hätte dieses Modell Zukunftscharakter. Da sich die Kosten und Steuern nicht ändern, sind auch keine Nachteile im internationalen Wettbewerb zu befürchten, sondern eher Vorteile. Die Schwarzarbeit ist nicht mehr so lukrativ, da die Steuerbelastung geringer ist.
Die Einzelheiten bleiben noch offen. Zeit für Bildung sollte nicht auf die Arbeitszeit angerechnet werden. Viele übrige Einzelheiten (z.B. rollende 4-Tage-Woche usw.) sind Sache der Tarifparteien.
Zum Schluß möchte ich noch etwas erwähnen, was selten ausgesprochen wird: die unvermeidliche Tendenz zur Steuererhöhung (unabhängig von demographischen Entwicklung). Das ist eine Folge der unterschiedlichen Arbeitsproduktivitätssteigerung in den verschiedenen Zweigen der Wirtschaft. In der Halbleiterindustrie sind vor 40 Jahren pro Beschäftigten und Tag vielleicht 100 Transistoren hergestellt worden, heute das Millionenfache. Beim Straßenbau vielleicht das Doppelte. Da aber das Lohnniveau in allen Bereichen etwa gleich steigt (aus Konkurrenzgründen um die Arbeitskräfte), fallen in der Halbleiterindustrie die Stückkosten und im Straßenbau steigen sie. Und bei fast allen aus den Steuern finanzierten Arbeiten steigen die Stückkosten, während sie in den anderen Bereichen im Mittel fallen. Deshalb müssen die Steuern tendenziell steigen.
Mit freundlichen Grüßen
Jochen Ebel